Ein Homosexueller kämpft seit 25 Jahren gegen Homophobie. Jeden Tag.

Fünf Mal spitalreif geschlagen: Der 40-jährige Vincenzo «Vinci» D’Adamo hat in seinem Leben schon so einiges über sich ergehen lassen müssen. Weil er schwul ist.

Text & Bild: Isabelle Dahinden
publiziert am 05.04.2020 auf zentralplus

Er sah ihn bereits zum zweiten Mal. Doch das wurde ihm erst später bewusst. Vincenzo «Vinci» D’Adamo hätte wohl nie damit gerechnet, als er am 21. Februar den Coop an der Luzerner Winkelriedstrasse aufsuchte.

Im Kopf malte er sich aus, was er alles braucht. Bis er spürt, dass ihn jemand anstarrt. Penetrant. Und schon folgen die Beleidigungen. Er wird als «Dreck» beschimpft. «Arschloch». Aussagen, die wir hier nicht schreiben wollen. Und: «Ich bring dich um.»

So erzählt uns Vincenzo D’Adamo die Geschehnisse des 21. Februars. Er rief um Hilfe. Niemand reagierte. D’Adamo zückte seinen Pfefferspray, richtete ihn gegen den fremden Mann.

Bereits im Dezember habe er ihn in der Brockenstube in Kriens gesehen. Damals sei der Mann vor ihn hingestanden, habe ihm vor die Füsse gespuckt.

D’Adamo ist sich sicher: Dass er so beleidigt, ja gar mit dem Tode bedroht wurde, liegt daran, dass er schwul ist. Bei der Polizei reichte er deswegen eine Anzeige gegen unbekannt ein. Hauptsächlich wegen Bedrohung und Beleidigung, welche die Polizei bestätigt.

Das Umfeld hat er immer im Visier

Wir treffen D’Adamo an einem sonnigen Märztag im Helvetiapärkli. Wir setzen uns auf eine Bank – er an den rechten Rand, ich an die linke. Social Distancing nennt sich das. Die Corona-Krise ist auch in unserem Gespräch fester Bestandteil. Der 40-jährige passionierte Coiffeur muss seine Haarscheren ruhen lassen. Und das belastet ihn, sind doch März und April seine besten Monate.

D’Adamo ist von schlanker Statur, trägt sein schwarzes Haar, das ihm bis über die Brust reicht, zu einem Dutt gebunden. Seinen Bart trägt er lange, die ersten Haare sind grau meliert. D’Adamo ist offen, selbstbewusst, er lacht viel. Zugleich zeigt er sich verletzlich und zerbrechlich, wie er, kurz nachdem er Platz genommen hat, seinen Pfefferspray in die Hand nimmt. Immer wieder blickt D’Adamo um sich, wie ein Tiger, der all die Geschehnisse rundum ins Visier nimmt. Stets darauf bedacht, dass überall die Gefahr lauern könnte.

Ohne Pfefferspray geht er nicht mehr aus dem Haus

«Ich bin traumatisiert», sagt D’Adamo. Bei den Übergriffen habe er sich extrem hilflos gefühlt. Tage später hatte er Zitteranfälle. Konnte nicht schlafen. «Als Ur-Stadtluzerner kämpfe ich nun schon seit 25 Jahren jeden Tag gegen Homophobie.»

Jeden zweiten Tag geht er in die Therapie. «Ich habe meine Angst zwar nicht vollständig abgelegt. Aber sie beherrscht mich nicht mehr», sagt D’Adamo. Tags zuvor erzählte er mir während eines Telefongesprächs, dass er eben realisierte, dass er seinen Pfefferspray zu Hause vergessen habe. Vor einigen Wochen wäre ihm das nicht passiert. Auch schon sei er im Lift gewesen und rannte zurück in die Wohnung, weil er bemerkte, dass er ihn nicht dabei hatte. Jetzt sitzt D’Adamo da. Den Pfefferspray hält er in seiner Hand, dreht und wendet ihn.

In den Pornoheften nach den Männern gesucht

Mit 16 Jahren hat sich D’Adamo geoutet. «Es war früh – und trotzdem spät», sagt er selbst. Schon als er zwölf Jahre alt gewesen sei, habe er gespürt, dass er sich eher zu Jungs hingezogen fühlt. Er erzählt, wie er als Teenager im Ackermann-Katalog herumblätterte. Und zwischen den Seiten, auf denen Frauen Büstenhalter präsentierten und den Seiten, auf denen Männer mit Boxershorts abgebildet waren, hin- und herblätterte.

«Und plötzlich lebt man ein verlogenes Leben gegenüber sich selbst.»

Oder als in der Schule die Papiersammlung anstand, jemand ein Bündel mit Porno-Magazinen entdeckte. Alle scharten sich um ihn, bestaunten die nackten Frauen. «Die Jungs schwärmten von Brüsten, wollten Vaginas sehen – und ich dachte immer: Wo sind die Männer?»

Homosexualität war im Sexualkundeunterricht nie Thema. D’Adamo fühlte sich unsicher, hilflos, dachte, er sei anders, passe in die Norm nicht rein. Also überspielte er seine wahren Gefühle, tat so, als ob auch er auf Brüste stehe. «Und plötzlich lebt man ein verlogenes Leben gegenüber sich selbst.»

Fünf Mal spitalreif geschlagen

Die Musik gab ihm Halt. Boy George. Prince, Pet Shop Boys, Elton John. Mit einem seiner Freunde machte er seine ersten sexuellen Erfahrungen. Er «experimentierte», wie D’Adamo erzählt. Sie waren Gleichgesinnte, tauschten sich aus. Sie suchten das Inseli und das «Uferlos» am Luzerner Geissensteinring auf, damals noch fester Bestandteil der Schwulenszene. Und merkten: Mit ihren Empfindungen sind sie nicht alleine.

Unser Gespräch wird unterbrochen, eine magere Frau fragt nach ein wenig Münz und Zigaretten. «Sie tut mir leid», sagt D’Adamo, während die Frau in grossen Schritten weitereilt. «Sie wäre bestimmt eine liebe.»

Erst als D’Adamo die Oberstufe verliess, seinen neuen Lebensabschnitt als Coiffeurlehrling begann, outete sich D’Adamo. «Seither stehe ich zu 100 Prozent zu mir, lebe mein Leben als Homosexueller, laufe mit einem Mann Hand in Hand durch die Strassen. Das wurde mir bereits fünf Mal zum Verhängnis.» Nicht weniger als fünf Mal sei er spitalreif geschlagen worden. Freunde mussten im Ausgang einen Schutzkreis um ihn machen, er versteckte sich hinter der Bar in einem Kasten.

Doch auch der selbstbewusste D’Adamo versteckt seine sexuelle Orientierung im Alltag immer mal wieder. Er wiege Situationen ab, spüre, wenn ihn jemand anstarre. Jemand abschätzige Worte in den Mund nimmt und mit einer leichten Kopfbewegung auf ihn zeigt. «Das alles sind Situationen, in denen ich lieber einmal zu viel die Hand eines Mannes loslasse.»

«Schau Kind, das ist jetzt ein Schwuler»

Als wie schwulenfreundlich schätzt D’Adamo unsere Stadt ein? «Es ist nicht besser, aber auch nicht schlechter als vor 25 Jahren.» Von Jung bis Alt, von Schweizern und Ausländern werde er gleichermassen beleidigt. Es sei die Mutter, die mit dem Finger auf D’Adamo zeige und ihrer Tochter sage: «Schau, das ist jetzt ein Schwuler.» Jugendliche, die ihm vor dem Manor an der Luzerner Weggisgasse «Schwuchtel» nachrufen.

«Ich habe keine Lust mehr, mich immer rechtfertigen, mich profilieren zu müssen, dass es mich als Homosexuellen gibt.»

D’Adamo kann nur spekulieren, woran das liegt. Er kennt auch homosexuelle Freunde, die nie solche Übergriffe erlebt haben wie er. «Glücklicherweise», fügt er an. «Ich ziehe das aus irgendeinem Grund wohl an.»

Müde und kämpferisch zugleich

Eine junge Mutter läuft mit ihrem Kinderwagen an uns vorbei, D’Adamo winkt, begrüsst sie. Später spaziert eine stadtbekannte Coiffeuse mit ihrem Hund vorbei. Auch sie bleibt stehen, um mit uns zu reden. Man kennt D’Adamo in unserer Stadt.

«Freunde und Familie geben mir den nötigen Halt», sagt D’Adamo, als wir unser Gespräch weiterführen. Er erzählt, wie er seinen 40. Geburtstag in Einzelisolation mit Fieber und Husten verbrachte. Seine Freunde backten ihm einen Kuchen, füllten den Lift seines Wohnblocks mit Ballons.

«Doch auch ich bin müde», sagt er. «Ich habe keine Lust mehr, mich immer rechtfertigen, mich profilieren zu müssen, dass es mich als Homosexueller gibt.»

Zugleich verspürt er aber den Drang in sich, hinzustehen. «Manchmal würde ich gerne auf ein Podest stehen, um die Leute zur Rede zu stellen.»

Seine Freunde geben ihm Halt

D’Adamo will sich seinen Frust von der Seele sprechen. Es brennt in ihm. Darüber zu sprechen, tut ihm weh. «Es erschöpft mich. Aber zugleich gibt es mir Kraft. Meine verklebte Seele löst sich.»

Viel zu viele homosexuelle Freunde habe er schon verloren. Freunde, die in ihren Abschiedsbriefen schrieben, dass sie den Schmerz nicht mehr ertragen konnten. Zu viel wurde es auch D’Adamo immer wieder.

«Solange die Dünnen nicht die Dicken, die Dicken nicht die Dünnen und die Hellen nicht die Dunkeln und umgekehrt akzeptieren, können auch wir Homosexuelle nicht gleich bedingungslos unser Leben leben.»

Wir stehen auf, lassen die Bank, die zu Beginn des Gesprächs in praller Sonne stand und nun unter dem wandernden Schatten der Bäume steht, hinter uns.

Noch ein letztes Mal bleibt D’Adamo stehen. Tastet hastig mit beiden Händen die Jackentaschen ab. Beruhigt atmet er auf.

Den Pfefferspray hat er.

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