Wir alle leben in einer Schönwetter-Gleichstellung – ein Interview

Die Welt steht still. Es sind Frauen, die zurück am Kochherd stehen, mächtige Männer, die uns die Welt erklären – und Gleichstellungexpertinnen, die aufschreien. Auch Politologin Gesine Fuchs sagt: Wirkliche Gleichstellung sieht anders aus.

Text & Bild: Isabelle Dahinden
publiziert am 24.05.2020 auf zentralplus

«Das Patriarchat lebt», titelte «Die Zeit». «The Coronavirus is a Disaster for Feminism», schrieb Helen Lewis im «Atlantic». Die Frauen, die stillen Opfer der Pandemie. Zurückkatapultiert in die 50er-Jahre, Rollenteilung wie es einst unsere Grossmütter und -väter pflegten. Mama: drosselt ihr Pensum, zurück bei den Kindern. Papa: arbeitet viel. Und das alles wegen Corona. Expertinnen und Experten jedenfalls schreien auf.

Wir haben Politologin und Gleichstellungsexpertin Gesine Fuchs gefragt, ob sie die Krise als Chance oder als Risiko für die Gleichstellung sieht.

Frau Fuchs, scheint es nur so, oder ist es mit der Emanzipation in Krisenzeiten schnell vorbei?

Ich denke, dass eher vielen klar geworden ist, wie wenig Gleichstellung wir eigentlich haben. Wir leben eine Schönwetter-Gleichstellung. Gut ausgebildete Mittelschichtsfrauen dürfen arbeiten und können dies häufig dank komplexer Arrangements, einer Kombination aus «neuen Vätern», eigener Teilzeit, unbezahlbaren Grosseltern und unterbezahlter prekärer Sorgearbeit vor allem von Migrantinnen. In der Krise, im Lockdown, zeigte sich, dass diese Gleichstellung fragil ist.

Weshalb ist die lang erkämpfte und noch nicht erreichte Gleichstellung in Krisensituationen so fragil?

Sagen wir es so: Die Gleichstellung, die wir haben, ist nicht besonders tief verankert. Gleichstellung ändert sich nur ganz langsam. In einer Krise akzentuieren sich Ungleichheiten, nicht nur zwischen den Geschlechtern. Häusliche Gewalt nimmt zu, die Arbeitsteilung verhärtet sich. In den 70er-Jahren war das Alleinernährermodell vorherrschend, dann verbreitete sich das Anderthalb-Verdiener-Modell. Also Papa arbeitet Vollzeit, Mama Teilzeit, was ja auch gar keiner wirklichen Gleichstellung entspricht. Zudem ist es von der gelebten Anderthalb-Praxis zurück zum Alleinernährermodell nur ein ganz kleiner Schritt. Beziehungsweise zurück zur Aussage, dass die Arbeit des Vaters wichtiger als die der Mutter ist.

Es ist nicht so, dass die junge Generation grundlegend alles anders machen will als ihre Grosseltern.

Weshalb sagen Sie das so?

Es gibt Studien, die besagen, dass gerade junge Leute noch der Meinung sind, dass Frauen ihre Teilzeiterwerbstätigkeit rund um die Kinderbetreuung organisieren sollten. Es ist also nicht so, dass die junge Generation grundlegend alles anders machen will als ihre Grosseltern. Auch heute ist die Aussage, weshalb eine Frau denn überhaupt Kinder möchte, wenn sie die dann in der Kita abgibt, nur um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, weit verbreitet.

Zur Person

Gesine Fuchs ist 53-jährig und lebt in Basel-Stadt. Sie ist Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie lehrt und doziert am Institut für Sozialpolitik, Sozialmanagement und Prävention. Zu ihren Forschungsprojekten gehört unter anderem eine nationale Studie zur Lohngleichheit.

Viele Frauen krebsten während des Lockdowns im Job zurück und kümmerten sich stattdessen vermehrt um die Kinderbetreuung und den Haushalt. Auch eine deutsche Studie der Hans-Böckler-Stiftung sagt, dass Kinderbetreuung und Haushalt (noch) mehr als vor der Corona-Krise an den Frauen hängenbleibt.Also stimmt der Aufschrei von Experten, dass wir in alte Rollenbilder verfallen, in die 50er-Jahre zurückkatapultiert werden?

Bei vielen Meinungen handelt es sich um Katastrophenmeldungen. Der Lockdown ist vorbei, die Kitas wieder offen. Sind wir dann noch in den 50er-Jahren? Ich denke nicht, dass sich diese Rollenbilder verfestigen.

Auf alte weisse Männer, die autoritär auftreten und vorgeben, alles zu wissen und im Griff zu haben – wie Trump oder Bolsonaro – würde hier niemand hören.

Der «Tagesspiegel» titelte: «Die Krise ist die Bühne des Patriarchats». Flammt das Patriarchat in der Corona-Krise neu auf?

Viel mehr sehen wir, dass alte Männlichkeitsbilder ausgedient haben. In der Schweiz und auch in Deutschland hat sich in der Krisenkommunikation gezeigt, dass die Zeit von patriarchalen Politikerhelden vorbei ist, wie auch eine Sendung von «SRF» zeigte. Auf alte weisse Männer, die autoritär auftreten und vorgeben, alles zu wissen und im Griff zu haben – wie Trump oder Bolsonaro – würde hier niemand hören. Kriegsrhetorik, wie Macrons «Nous sommes en guerre», verfängt nicht. Hier sehen wir einen Wertewandel!

Wie kommunizieren denn Politikerinnen und Politiker in der Schweiz?

Unsere Politikerinnen und Politiker pflegen ein gutes Stück Wissenschaftskommunikation und gehen dabei eher «demokratisch» vor. Sie zeigen, dass sie auf Basis des bisher Bekannten handeln, aber vieles noch unbekannt ist. Sie beziehen Erkenntnisse der Wissenschaft in ihre Entscheidungen ein, weisen aber auch daraufhin, dass die Wissenschaft selbst ständig neue Erkenntnisse gewinnt. Krisenkommunikation in der Schweiz betont, dass wir nur gemeinsam Schritt für Schritt die Krise meistern können und müssen.

Dennoch stehen auch bei uns Männer im Fokus: Virologen, Experten, Chefärzte, «Mister Corona». Mit Ausnahme von einigen Politikerinnen scheint es, als ob auch bei uns Männer das Sagen haben und uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben.

Klar, wir hören auf Daniel Koch, weil er in einer bestimmten Position ist als Delegierter für Covid-19 des BAG. Hier spiegelt sich einmal mehr: Wir haben schlicht zu wenig Frauen in Führungspositionen, es gibt keine Daniela Koch. Man müsste aber jetzt klar darauf schauen, ob Expertinnen weniger zugehört und weniger vertraut wird und ob sie schärfer kritisiert werden als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie im Prinzip dasselbe sagen. Expertise wird immer noch häufig, auch unbewusst, mit Männern assoziiert.

Skeptiker fürchten den Untergang, Optimisten hoffen, dass die Krise zu einem Erwachen führt. Was denken Sie?

Ich sehe die Krise eher als Chance für die Gleichstellung. In dieser Extremsituation muss allen klar geworden sein: Care-Arbeit ist das Fundament unseres Wirtschaftens. Aber als Arbeit, die vor allem von Frauen ausgeführt wird, war sie uns weniger wert als die Arbeit von Männern. Care-Arbeit wird weiterhin als Privatsache bezeichnet. In der Krise zeigt sich, was unverzichtbar ist: Sorge, Betreuung und Pflege, medizinische Behandlung, Essen und Wohnen. Auf alles andere können wir kürzer oder länger verzichten.

Kinderbetreuung ist doch nicht nur eine Aushandlungssache von Paaren.

Viele Familien mussten sich während des Lockdowns neu organisieren. Homeoffice und die Kinderbetreuung selbst in die Hand zu nehmen, stellte viele Familien vor eine Herausforderung.

Am Beispiel Kinderbetreuung zeigt sich die «Schönwetter-Gleichstellung» ganz gut. Viele Paare mussten Betreuungslücken selber füllen, sich privat organisieren, unbezahlten Sonderurlaub eingeben. Bei politischen Massnahmen steht die Kinderbetreuung hinten. Dabei ist das doch nicht nur eine Aushandlungssache von Paaren. Es gab einige Kantone, die für Einnahmeausfälle geschlossener Kitas eingesprungen sind, weil sie als systemrelevant für die Zeit nach der Krise eingestuft wurden. Andere Kantone haben  die Wichtigkeit ignoriert und wurden jetzt vom Bund überholt, der sie dazu verpflichtet.

Sie selbst sind Mutter einer 15-jährigen Tochter. Wie haben Sie selbst Beruf und Familie unter einen Hut gebracht?

Nun, ich habe den richtigen Mann geheiratet. Sie lacht. Und ich lebe in einem Kanton – Basel-Stadt – der seit 15 Jahren einen Passus in der Kantonsverfassung hat: Der Kanton sorgt dafür, dass ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsangebot zur Verfügung steht, unterstützt Familien bei der Vereinbarkeit.

Kann die Krise denn dazu führen, dass Care-Arbeit mehr wertgeschätzt wird?

Ich hoffe es. Dazu braucht es aber einiges. Nur applaudieren ist total verlogen. Bei der bezahlten Care-Arbeit gibt es die Einsicht, dass es neben mehr Lohn auch bessere Arbeitsbedingungen braucht – und zwar im Spital, im Altenheim, bei der Kinderbetreuung und in der häuslichen Pflege. Mit der Krisenerfahrung im Rücken könnte das Gesundheitspersonal dies jetzt lauter und selbstbewusster fordern. Wir alle müssen sie dabei aber solidarisch unterstützen und bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Allerdings ist es in frauendominierten Berufen schwieriger, solche gewerkschaftlichen Forderungen zu bündeln und nachdrücklich zu vertreten.

Weshalb denn?

Frauen werden dazu erzogen, nichts zu fordern, nicht laut zu sein. Sondern lieb, freundlich – und zufrieden zu sein mit dem, was sie haben. Viele berufliche Tätigkeiten, die heute frauendominiert sind, waren früher überwiegend privat im Haushalt von Frauen getragen. Das wirkt nach, auch bei der Kinderbetreuung: Ist das überhaupt ein Beruf, braucht das eine gute Qualifikation – und ist nicht das süsse Kinderlachen auch eine Belohnung? Da muss der Lohn nicht so hoch sein. Es ist eine Frage der Sozialisation.

Können Sie dazu noch ein anderes Beispiel nennen?

Nehmen wir an, ein Bergarbeiter erhält eine Erschwerniszulage, weil er schwierigen Arbeitsbedingungen ausgesetzt ist, viel schwitzt. Durchaus berechtigt. Aber was ist mit einer Reinigungskraft auf einer Covid-Station? Wenn sie Schwierigkeiten hat, durch die Maske optimal zu atmen, braucht auch sie eine Erschwerniszulage – oder eine kürzere Schicht. Das könnten viele  als unverschämt empfinden.

Homeoffice als Statusfrage hat ausgedient.

Eine der Hoffnungen nach der Krise ist auch, dass Arbeitgeber offener für flexibles Arbeiten werden. Schliesslich haben viele von uns, die früher fünf Tage die Woche im Büro waren, jetzt wochenlang von zuhause aus gearbeitet. Könnte die Krise folglich zu einem Umdenken bezüglich flexibler Arbeit und Homeoffice führen?

Die Homeoffice-Frage kann sich durch die Krise demokratisieren: Alle, bei denen es möglich ist, können jetzt legitimerweise von ihrem Arbeitgeber fordern, im Homeoffice zu arbeiten. Eine deutsche Forscherin fand mit ihrer Studie 2015 heraus, dass rund 30 Prozent der Beschäftigten wenigstens hin und wieder zu Hause arbeiten. 12 Prozent tun dies häufig oder die ganze Zeit. Es waren bisher tendenziell höher Qualifizierte und Bezahlte, die im Homeoffice tätig waren. Der Lockdown hat gezeigt, dass es viel mehr sein können. Homeoffice als Statusfrage hat ausgedient.

Sie selbst sagen, dass die Gleichstellung seit 20 Jahren stagniert. Wann beziehungsweise was bräuchte es, damit wir nicht mehr in einer Schönwetter-Gleichstellung leben, wie Sie es nannten?

Es braucht ein Bewusstsein, dass Gleichstellung für alle das Ziel ist, nicht nur für die Managerin. Wenn die Sorgearbeit so wichtig ist für unser Zusammenleben, dann soll sie gute Bedingungen vorfinden. Sie sollte für alle zugänglich sein – und alle, Frauen wie Männer, sollten sie leisten können. Dann hätten wir kein Anderthalb-Verdiener-Modell mehr, sondern ein Doppel-Verdiener-Doppel-Betreuungs-Modell, also das dual earner – dual carer model. Diese veränderte Arbeitsteilung würde sich positiv auf die Gleichstellung in anderen Bereichen auswirken. Es gibt eine Initiative, die die Bezahlung privater Sorgeleistung von Frauen fordert. Deswegen habe ich in diesem Bewusstsein auch das Equal Care Manifest unterzeichnet.