Wie «Electroboys» Leben zu einer Show wurde, auf deren Bühne er nicht mehr vorkam

Vor einem Jahr zog sich Florian Burkhardt, der als Electroboy bekannt war, aus der Öffentlichkeit zurück. Nun ist der Luzerner zurück mit neuer Musik. Das ist zugleich auch ein persönlicher Neuanfang.

Text und Bild: Isabelle Dahinden
publiziert am 10.07.2020 auf zentralplus

Früher wollte er die totale Reizüberflutung. Heute liebt er das Minimalistische.

Florian Burkhardt, kurzes, graues Haar, sitzt vor einer Tasse Kaffee. Der ist schon lange kalt, denn Florian hat viel zu erzählen.

Bekannt wurde Burkhardt mit «Electroboy». Seine Biografie erinnert an eine Odyssee: Snowboard-Pionier, Topmodel, Zürcher Partykönig. Dann kam der Absturz – Angststörungen bestimmten fortan sein Leben.

Burkhardt kann nur in einem kleinen Radius leben, alles nur zu Fuss erkunden. Zug fahren kann er nicht alleine. Deswegen treffen wir ihn da, wo er wohnt, sitzen im Berner Café O bolles.

Musikalischer und persönlicher Neubeginn

Vor einem Jahr verabschiedete sich Burkhardt mit einer letzten Party. Er wollte von der Bildfläche verschwinden und nicht mehr länger Electroboy sein. «Alle haben ein Bild von mir, wie ich bin. Ein Bild, das meiner Persönlichkeit eigentlich gar nicht entspricht. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde es zu einer Show, auf deren Bühne ich gar nicht mehr vorkam.» Genug war genug – 2019 gingen Electroboy und Florian Burkhardt getrennte Wege, wie der 46-Jährige heute sagt.

Bereust du es denn, dass über dich ein Dokumentarfilm gedreht wurde?
«Das habe ich mir selbst auch schon überlegt.
Einerseits hat es mich zu dem gemacht, was ich heute bin.
Als der, der ich heute bin, würde ich es aber nicht mehr wollen.»

Jetzt wagt Burkhardt einen musikalischen Neubeginn als Singer-Songwriter. An diesem Freitag erscheint seine neue Single «S’Läbe isch keis Konzept». Burkhardts Songs sind unbearbeitet. «Ungetuned». Ohne Schnickschnack.

Das war nicht von Anfang an so. Zuerst noch mit vielen Instrumenten arrangiert, strich er mehr und mehr raus, bis seine nackte Stimme blieb. Kein einfacher Prozess für Burkhardt. «Ich habe mich erst damit anfreunden müssen, dass das, was ich von Natur aus bin, genügt.» Dekonstruieren nennt Burkhardt diesen Prozess. Immer wieder schiebt er sich während des Gesprächs seine Brille zurück.

Burkhardts Einstellung zum Leben findet Platz in seinen Songs. Etwa in «Schrib dini Gschecht»: Dass niemand vergessen soll, dass jeder der Held seiner eigenen Geschichte sei.

Oder im Song «Verlür di ned» singt Burkhardt:

«Ech mache Tör zue, wäg met all dem Lärm.
Dem ganze Schall ond Hall, wo so vel Ufmerksamkeit brucht.
S’Lütischt hed gwonne, scho möched alli met. Morn isch’s scho öpis anders.
Wäge all dem Lärm ghöri nüd.
Verlür di ned.
Werd ned taub ond stomm ond blend,
i all dem Lärm vo dene Stemme, wo ned dini send.»

Hör selbst rein:

Erst musste er sich mit seiner Stimme anfreunden

Anfänglich hatte Burkhardt Zweifel, er fand seine Stimme, die aus den Lautsprecherboxen erklang, furchtbar. Er fragte sich, was die anderen wohl dazu meinen würden. Das Projekt Singer-Songwriter hat Burkhardt mehrmals fast abgehakt, bis er die Anderen ausblendete, den Fokus wieder auf sich selbst richtete und das machte, was er wollte und was ihm guttat.

Das ständige Streben nach Perfektion, der Versuch, mehr zu scheinen als zu sein, sind Dinge, mit denen sich Burkhardt heute kritisch auseinandersetzt. Viele Menschen würden sich in einen «Plastik» hüllen, ähnlich einem Schauspieler auf einer Bühne die Show abliefern, die andere sehen wollten. Beispielsweise erkennt Burkhardt hinter vielen Social-Media-Profilen ein Konzept: «Menschen werden zu einem Brand, einer Ich-AG.» Auch als Electroboy sei er eine Kunstfigur gewesen, eine Projektionsfigur, ein Schauspieler.

Songwriting bedeutet für ihn, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Es ist für ihn eine Suche. Herauszufinden und sich zu fragen, was er eigentlich zu sagen hat. Wer er ist.

Du sagtest, die Musik sei für dich eine Suche.
Nach was?
Deinem wahren Ich?
«So weit möchte ich nicht gehen.

Ich habe keine Ahnung, was das wahre Ich ist.»

Er sieht Jahre später vieles anders als früher

Wer den Film «Electroboy» gesehen, die Bücher gelesen hat, könnte meinen, dass Burkhardt nie an andere denkt. Ganz ein anderes Bild vermittelt er heute, in diesem Café in Bern. Burkhardt ist offen, interessiert, weiss gar über den Selbstversuch der Autorin beim Profikuschler Bescheid und nimmt sich vier Stunden lang Zeit für das Gespräch. Und es hätte noch einige Stunden andauern können.

Mit seinen Eltern steht er inzwischen in gutem Kontakt, im Rahmen dessen, was möglich ist. Niemand mehr zerbreche sich in der Familie den Kopf darüber, wieso der Vater Katholik, der Sohn homosexuell sei. «Das haben wir abgehakt», sagt Burkhardt. Früher pflegte er ein distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern. Nachdem diese bei einem selbst verschuldeten Autounfall ihren einen Sohn verloren hatten, wurde Florian Burkhardt überbehütet und wuchs in streng religiösen Verhältnissen auf.

Viel zu einfach findet er heute die These, dass er Opfer sei und die Überbehütung durch seine Mutter zu den Angststörungen geführt habe. Es sei viel komplexer. Psychologie ist für ihn ein Mutmassen. Seine Krankheit schränke ihn zwar ein, erweitere ihn aber auch. Schliesslich muss er täglich Grenzen überwinden.

Er will wieder ein einfacher Junge sein – mit Gitarre, Papier und Bleistift

Einst für Dolce & Gabbana, Prada und Gucci über den Catwalk gelaufen, ist Burkhardt heute von Prunk und Glamour gelangweilt. Er schweift ab, erzählt von seiner Zeit am katholischen Lehrerseminar in Zug. Wie die jungen Männer einmal im Jahr das Mädchenseminar besuchen durften, nachmittags um 14 Uhr, zu Kuchen und Orangensaft; Walzer tanzen war erlaubt.

Im Keller des Lehrerseminars waren Musikkoje an Musikkoje aneinandergereiht, kleine Kabinen mit runden Fenstern. Täglich suchte Burkhardt diese Kojen für ein, zwei Stunden auf mit Gitarre, Papier und Bleistift. «Dorthin will ich wieder. Zurück zum einfachen Jugendlichen, der mit seiner Gitarre, Papier und Bleistift Musik macht.» Auch hier erwähnt Burkhardt wieder das Verb dekonstruieren: Er will zum Wesentlichen, zur Basis zurück.

Was gab dir die Musik damals?
«Es war mein Raum.

Physisch wie psychisch.

Ich konnte ja weder schwul noch speziell sein.

In jeder Form war ich eine Funktion.

Der Sohn. Der, der in die Kirche geht. Der Student, der angehende Lehrer.

Ich war nie einfach Florian.

Anders, wenn ich Musik machte. Dann war ich in meiner Welt.»

Wir brechen auf zur Turnhalle, einer Café-Bar und Treffpunkt der hippen Berner. Mit einem Mate und einem Kaffee setzen wir uns an einen Tisch. Und plötzlich reden wir über ganz grosse Dinge: Das Daten in der heutigen Zeit. Das Verliebtsein. Rassismus. Und plötzlich stellt er die Fragen. Wenn er die Kaffeetasse zum Mund führt, zittert die Hand manchmal. Nicht, weil er nervös ist. Es sind Nebenwirkungen eines seiner Medikamente, das er viele Jahre genommen hat.

Er muss nicht «mehr und nicht besser» sein

Burkhardt meinte in einem früheren Interview, dass das Kreieren für ihn wichtig sei. Das fertige Produkt interessiere ihn weniger. «Wenn es fertig ist, dann ist es für mich tot», meinte er damals.

Anders ist es bei seinen Songs: «Sie sind ein Geschenk an mich selbst.» Er möchte nun mit Unperfektionismus, mit «Menschsein» auffallen. Er möchte nicht in die Charts, sondern andere mit seiner Zerbrechlichkeit, der Nacktheit seiner Stimme berühren.

Mehrmals fragt Burkhardt während des Gesprächs: «Weisst du, was ich meine?» Etwas, das bei seinen Songs nicht nötig ist. «In der Musik kann ich mich ausdrücken, mit blossen Worten, ohne diese zu erklären.»

Früher von der totalen Reizüberflutung geprägt, will Burkhardt heute einfach Florian sein: «Ich muss nicht mehr und nicht besser sein als ich bin.»

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