Stefanie Stalder hat sich nach jahrelangem Versteckspiel als trans geoutet. Auf diesem Weg hat die 51-Jährige viel verloren. Aber auch die Freiheit erkämpft, endlich zu sein, wie sie wirklich ist. Stefanie Stalder ist Vater von zwei Kindern und lebt auf einem Hof in Grosswangen. Wir haben sie besucht.
Text & Bilder: Isabelle Dahinden
publiziert am 27.12.2020 auf zentralplus
Weihnachten war für sie all die Jahre zuvor der Inbegriff von Depression. Weil sie sich nicht in die Arbeit stürzen, die Gedanken und das innerliche Ungleichgewicht, sich als Mann nie richtig zurechtzufinden, nicht ignorieren konnte. Erst seit sie sich vor fünf Jahren als trans geoutet hat, kann sie die Festtage geniessen.
Wir besuchen die 51-Jährige in ihrem Zuhause in Grosswangen. Stefanie Stalder wartet bereits an der Bushaltestelle, wir setzen uns in ihren hellblauen Fiat, fahren vorbei an weiten, grünen Feldern, zwei Kilometer weiter zu einem Hof. Hier ist sie gross geworden und wohnt auch heute noch hier.
Im lichtdurchfluteten Wohnzimmer thronen die Figuren von Maria und der ägyptischen Göttin Isis, «Zickenstube» heisst es auf einem Strassenschild, eine Violine liegt im Kasten auf dem Sofa, daneben stehen drei kindsgrosse Puppen. In den Haaren tragen sie eine Feder, welche ihre Kinder hineingesteckt haben. «Ich hatte ja früher nie eine Puppe», sagt Stefanie und lächelt.
Nach 46 Jahren outete sie sich als trans
Sie nimmt den rosafarbenen Teekocher zur Hand, zwei rosafarbene Tassen und macht Tee. «Wenn ich heute in den Spiegel schaue, erkenne ich mich manchmal selbst nicht wieder», sagt sie mit ruhiger Stimme.
Stefanie Stalder hat viel zu erzählen. 46 Jahre lang lebte sie als Mann, lebte ein Versteckspiel, verdrängte die Gedanken, dass sie sich in dieser Rolle nicht wohlfühlt. Immer wieder. Immer wieder wurde sie von Depressionen eingeholt. Suizidgedanken.
Vor fünf Jahren verfiel sie an Weihnachten erneut in schwere Depressionen. Kam nicht mehr aus dem Bett, ass nichts mehr, fühlte sich wie gelähmt. «Jetzt steh endlich zu dem, wer du wirklich bist», sagte damals Stefanies Frau und Mutter ihrer zwei Kinder. «Sonst gehen wir beide kaputt.» 2015 outete sich Stefanie schliesslich als trans, begann mit der Hormontherapie – vor zwei Jahren unterzog sie sich einer Geschlechtsanpassung.
Depressionen holten sie immer wieder ein
«Ich habe das Auf und Ab der letzten Jahre unterschätzt, die Veränderung, die ich durchmachte», sagt Stefanie Stalder. «Manchmal bin ich mir selbst nicht mehr nachgekommen, ich musste wieder auf mich warten.» Erst habe sie gedacht, durch die Transition ändere sich nur ihr Äusseres. Heute weiss sie: Sie ist ein neuer Mensch, mit neuen Charakterzügen, neuen Interessen. Sie zeigt auf das Tagebuch vor sich auf dem Tisch, ein Tagebuch, in dem sie sich heute wiedererkennt, in dem sie ihre Gefühle definiert – und sie nicht wie in den Tagebüchern, die sie noch als Mann geschrieben hat, als unerklärlich, als störend empfindet. Stefanie schreibt heute an ihrem Roman, lernt das Geigenspielen. «Heute bin ich, wie ich bin. Ich verstelle mich nicht mehr, will mich nicht mehr in eine Rolle zwängen.»
«Ich dachte, es sei mein Schicksal, in einer falschen Rolle zu leben.»
Stefanie Stalder
Stefanie Stalder, glattes, dunkelbraunes Haar und pinker Lippenstift, wuchs in Grosswangen auf dem Hof der Eltern auf. Ohne Druck, ohne Zwang. Schon als Kind schlüpfte Stefanie – damals noch Stefan – in die Kleider von Cousinen und Schwestern. Erst als sie in die Schule kam, realisierte sie, dass sie nirgends dazugehört. Bei den Knaben fühlte sie sich unwohl, auch ins Bild der Mädchen passte sie nicht wirklich. Stefanie wurde ausgegrenzt, wurde zur Einzelgängerin. Mit 15 Jahren hatte sie zum ersten Mal Depressionen. Warum, das wusste niemand. Mehr und mehr wollte Stefanie dem Druck der Gesellschaft, ein Mann zu sein, gerecht werden. Nach einer Landwirtschaftslehre schloss sie die Maurerlehre ab. Sie eignete sich eine grobe Sprache an, Alkoholexzesse folgten. Das innere Ungleichgewicht blieb.
Sie zog sich immer heimlich Frauenkleider an
Mit der Zeit versteckte Stefanie in einem Zwetschgenfass im Stall Frauenkleider, die sie heimlich anzog. Sie fuhr in Städte wie Zürich und Bern, wo sie niemand kannte, zog sich Frauenkleider über und lief durch die Städte. Die Strümpfe an den Beinen spürend, «ein total befreiendes und verwirrendes Gefühl zugleich».
«Wenn ich schon nicht als Frau leben kann, dann will ich zumindest als Frau sterben.»
Trotz immer wiederkehrender Depressionen hatte Stefanie früher nie ganz die Hoffnung aufgegeben, sich doch noch als Mann in dieser Welt zurechtzufinden. Und so machte sie immer weiter als Mann: Sie verliebte sich und vertraute ihrer späteren Frau bereits von Beginn weg an, dass sie gerne Frauenkleider trägt. Das Paar liess sich Zeit, heiratete und bekam zwei Kinder. Eine zwiespältige Situation für Stefanie – einerseits freute sie sich auf ihr neues Dasein als Vater, aber immer wieder tauchte der Gedanke auf, irgendwie in der falschen Rolle zu sein. «Die Geburten meiner Frau waren extrem, ich bin fast draufgegangen», sagt Stefanie heute. Vom Begriff «Transidentität» hatte sie bis vor zehn Jahren noch nie etwas gehört, dass sie mit ihren Gefühlen nicht alleine ist, das wusste Stefanie damals nicht. «Ich dachte, es sei mein Schicksal, in einer falschen Rolle zu leben.»
Ein weiteres einschneidendes Erlebnis war 2013: In der Firma, in der Stefanie arbeitete, kam es zu einem Attentat. Sie verlor einen guten Freund. Stefanie hatte Albträume, in denen sie sich unter den Opfern sah, im Hemd und mit Krawatte im Sarg lag. Ihr wurde klar: «Wenn ich schon nicht als Frau leben kann, dann will ich zumindest als Frau sterben.»
Ihre frühere Partnerin: Heute beste Freundinnen
Fortan lebte Stefanie zuhause so gut es ging als Frau. Immer wieder streicht sich Stefanie Stalder beim Gespräch ihre Haare aus dem Gesicht. Mit ihrer damaligen Partnerin und den beiden Kindern wohnt sie heute im selben Haus, jedoch in getrennten Wohnungen. Stefanie unten, die Familie oben. Den Hof hat sie ihrer Frau überschrieben, Stefanie Stalder arbeitet in einem Betrieb für Holzfaserplatten.
Noch heute hat sie eine enge Beziehung zu ihrer früheren Partnerin. Sie sind nicht geschieden, sehen sich heute als Partnerinnen auf einer anderen Ebene. Beste Freundinnen seien sie. «Sie war immer eine Stütze für mich, zuletzt gab sie mir den nötigen Schub, mich zu outen, zu meinen wahren Gefühlen zu stehen.» Die beiden hätten immer zueinander gesagt: «Wir probieren es, solange es gemeinsam geht, aber wir zwingen uns nicht.» Bald wurde aber klar, dass eine Beziehung auf traditionellem Weg nicht geht. «Und meine Frau sagte, dass sie nicht lesbisch sei, dies nicht könne.»
Seit mehr als fünf Jahren hatte Stefanie keinen Sex mehr. Damit muss sie auch noch warten, weil nach der Geschlechtsanpassung noch eine kleine Korrektur-Operation nötig ist. Eine Beziehung wünscht sie sich derzeit nicht, auch wenn ihr manchmal die Nähe zu jemandem fehle. Erste dachte sie, sie sei lesbisch, dann, dass sie sich doch eher zu Männern hingezogen fühlt. Jetzt sagt Stefanie: «Es kommt auf den Menschen drauf an. Ich bin offen, ob Mann oder Frau. Wenn sich der richtige Mensch in mein Leben reinschleicht, dann freue ich mich.»
Für den Sohn war es schwer am Anfang
Für die heute siebenjährige Tochter war der Transitionsweg einfacher als für den zehnjährigen Sohn. «Meine Tochter freute sich für mich, sie kannte mich ja von Beginn an praktisch nur als Frau. Wir haben seither sogar noch eine engere Bindung zueinander.»
Dem Sohn sei es schwerer gefallen, das Ganze verstehen zu können. «Ich erklärte ihm, dass mein Körper nicht zu meinem Hirn passt. Denn das, was da denkt, ist eine Frau. Und dass ich deswegen so viel traurig bin, weil ich darunter leide.»
«Mich quälte der Gedanke, was ich da meinem Kind nur antue.»
Die Geschlechtsanpassung in Thailand rückte immer näher. Der Tag ihrer Abreise, am Gleis, als sie in den Zug stieg, auf zum Flughafen Zürich Kloten, hat sich tief in Stefanies Gedächtnis eingebrannt. «Mein Sohn ist beim Abschied völlig ausgeflippt, hat geschrien und geweint.» Auch heute noch löst dieser Moment viel in ihr aus. «Das war für mich das Schwerste während der ganzen Transition. Mich quälte der Gedanke, was ich da meinem Kind nur antue.»
Stefanie liess ihren Kindern Zeit. Acht Wochen später kommt es am Bahnhofsgleis zum grossen Wiedersehen. Ihr Sohn überreicht ihr eine Zeichnung mit roten, goldenen und silbernen Herzen. Eine Art Selbsttherapie, die Zeichnung hängt heute in ihrer Stube. «Meine Kinder sehen mich als Frau, aber sie sagen mir Papi. Manchmal sagen sie aber auch, dass ich das Reserve-Mami bin.» Stefanie lächelt. «Ich wollte meine Kinder nie zu etwas zwingen, ihnen nie vorschreiben, wie sie mich nennen sollten.»
Viel verloren – aber die Freiheit gewonnen, zu sein, wer sie wirklich ist
Stefanie hat auf ihrem Weg viel verloren. Hobbys, Bekannte, Freunde. Aus dem Jodlerclub ist sie ausgetreten, weil es hiess: Wenn sie nicht geht, dann gehen andere. Transidentität ist in einem konservativen 3’000-Seelendorf wie Grosswangen eher ein Fremdbegriff. Man grenzt Stefanie eher aus als verstehen zu wollen. Früher eine leidenschaftliche Traktoren-Oldtimer-Sammlerin, fühlt sie sich in dieser Männerdomäne heute nicht mehr wohl. Ihre Mutter akzeptiert sie zwar, möchte aber nicht mit ihrer Tochter gesehen werden. Ihre Geschwister akzeptieren sie, melden sich aber seit dem Outing viel weniger bei Stefanie.
Stefanie verfiel in eine Trauer, musste Abschied nehmen. «Ich musste lernen loszulassen. Die schönen Erinnerungen bleiben, den Rest muss ich gehen lassen.» Ihren Weg der Transition bereut sie keine Sekunde. «Ich bin jetzt so, wie ich mich immer gefühlt habe. Ich fühle keine Diskrepanz mehr in meinem Innern, muss nichts mehr darstellen, das ich gar nicht bin. Ich bin einfach mich selber – das ist total befreiend.»
War sie vor Jahren noch Ende Dezember in schwerste Depressionen gefallen, hat sich Stefanie heuer neue Ziele fürs kommende Jahr gesteckt. Und was für welche: Geige, 1. Lage spielen. Pemanent Make-up und Haare. Brustimplantate. Vagina reaktivieren. Bei einer Escort-Agentur bewerben. «Ich fühlte mich mit den Frauen immer sehr verbunden und möchte auch ihre Seite einmal erleben», sagt sie. «Und dann hätte ich wieder ein kleines Geheimnis.»