Marianne Heer-Hensler hat sich vor pointierten Aussagen nie gescheut. Jetzt ist sie nach 37 Jahren in der Luzerner Justiz pensioniert. Wir sprechen mit ihr über Feminismus und die Verschärfung des Sexualstrafrechts. Und darüber, warum sie als Richterin ein Opfer von Sexualstraftaten fragte, wie kurz dessen Rock zur Tatzeit war.
Text & Bild: Isabelle Dahinden
publiziert am 20.06.2021 auf zentralplus
Marianne Heer-Henseler, sie arbeiteten 37 Jahre lang in der Luzerner Justiz. Sie müssen ein schlechtes Bild unserer Gesellschaft haben, hatten Sie doch viel mit Straftätern zu tun.
(Sie lacht.) Ich habe realisiert, dass vieles relativ ist. Durch meine Tätigkeit und Einblicke als Richterin wurde ich toleranter. Ich trete Menschen positiver gegenüber.
«Ich versuche viel zu erklären und oft auch zu entschuldigen.»
Inwiefern?
Ich versuche viel zu erklären und oft auch zu entschuldigen. Ich reagiere nicht mehr nur einfach darauf, wie jemand mir direkt gegenübertritt. Ich suche viel mehr nach den Gründen, warum sich jemand so verhält. Das hat sich auch ins Private übertragen. Ich hatte viel mit psychisch gestörten Straftätern zu tun. Dadurch habe ich gelernt, dass nicht immer alles im eigenen Belieben steht. Dass es Hintergründe gibt, die einen beeinflussen, die man nicht durchschaut oder für die man sogar nichts kann.
Sie haben sich immer für Frauen und Rechte der Frauen eingesetzt. Empfinden Sie zwischen dem «neuen» Feminismus und dem «alten» eine Kluft?
Der neue Feminismus läuft meiner Meinung nach grundsätzlich nicht wirklich gut. An der Universität begegne ich vielen jungen Frauen, mit denen ich Jahre später noch Kontakt pflege. Da beobachte ich, dass das Emanzipationsbedürfnis rückläufig ist. Für mich ist eine gewisse Lethargie spürbar. Viele kehren zurück zur Familie, geben den Beruf völlig auf. Das hätte ich nie gemacht.
Entschieden Sie sich gegen die Familie und für die Karriere?
Zu meiner Zeit musste ich das, ja. Es gab keine Tagesschulen und keine Kitas. Als ich noch politisch aktiv und in der Geschäftsleitung der FDP war, schlossen sie mich fast aus der Partei aus, weil ich für Tagesschulen kämpfte. (Sie lacht.) Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Bereut habe ich es aber nie, mich für die Karriere entschieden zu haben. Ich war immer sehr glücklich in meinem Beruf.
Zur Person Marianne Heer wurde 1955 in Willisau geboren. 1984 war sie Gerichtsschreiberin in Luzern, ein Jahr später wurde sie Richterin am Amtsgericht Luzern-Land. 1991 bis 2000 war sie als Staatsanwältin bzw. Oberstaatsanwältin tätig, bis sie als Richterin ans Obergericht, das heutige Kantonsgericht, wechselte. Marianne Heer lebt in Horw mit ihrem Mann, sie hat drei deutsche Warmblut-Pferde, acht Katzen und drei Hunde. |
Sie können mit dem neuen Feminismus nicht viel anfangen. Weshalb nicht?
Ich finde es schlecht, wenn der Feminismus militant ist – so nehme ich ihn derzeit teilweise wahr. Dieses Schreierische, Kämpferische und Militante bringt uns nicht weiter.
«Schreierisches schafft extreme Fronten.»
Warum nicht? Ich finde: Frauen sollten für ihre Forderungen und gegen Ungerechtigkeiten einstehen.
Schreierisches schafft extreme Fronten. Aggression erzeugt Gegenaggression. Man müsste dezidiert und zielstrebig kämpfen für die Position von Frauen. Und Frauen sollten zusammenhalten. Letzteres finde ich derzeit extrem positiv. Heute ziehen Frauen an einem Strang. Zu meiner Zeit war ich eine Einzelkämpferin, die auch von Konkurrentinnen schräg angeschaut wurde.
Können Sie nicht nachvollziehen, dass heute noch Tausende Frauen auf die Strasse gehen – gegen Sexismus, Lohnungleichheiten und Altersarmut?
Doch, natürlich. Selbstverständlich ist noch vieles im Bereich der Gleichstellung für Frauen zu tun. Frauen müssen für ihre Rechte weiterkämpfen – wie, das ist eine Stilfrage. Meiner Meinung nach haben wir viel erreicht. Wir sind nicht mehr im Stadium, in dem wir schreien müssen.
Derzeit wird das Sexualstrafrecht auf Bundesebene revidiert (zentralplus berichtete). In einer Podiumsdiskussion mit der «Republik» sagten Sie, dass Sie eine Verschärfung des Sexualstrafrechts unnötig finden. Weshalb?
Ich kann auf eine Zeit zurückblicken, wo es mit den Vergewaltigungen sehr im Argen lag. Als Gedanken wie «Das Opfer ist selber schuld, es ist doch nicht so schlimm» absolut zur Tagesordnung gehörten. Zudem wurden lächerlich tiefe Strafen ausgesprochen. Die Opfer werden heute viel ernster genommen als vor 37 Jahren. Sie können sich im Strafprozess als Privatklägerinnen einbringen, werden gehört. In meinem beruflichen Umfeld habe ich den Eindruck, dass die Strafhöhe dem Verschulden heute wirklich angemessen ist und es nicht einer gesetzlichen Pflicht zu höheren Strafen bedarf.
Die Befürworterinnen der Revision des Sexualstrafrechts sagen, dass heute ein «Nein» beim Sex nicht genügt, damit der Straftatbestand einer Vergewaltigung erfüllt ist. Dies sei nur der Fall, wenn die Opfer sich körperlich wehren. Wie sehen Sie das?
Die Justiz steht keineswegs zwingend vor der Situation, dass immer körperliche Gewalt zur Herbeiführung der Widerstandsfähigkeit des Opfers bewiesen werden muss. Das wird von den Befürworterinnen zu Unrecht behauptet. Per definitionem läuft eine Vergewaltigung gegen den Willen des Opfers ab. Als Nötigungsmittel gilt aber auch psychische Gewalt. Dies wird durchaus beachtet.
«Das Strafrecht ist der falsche Ort, um gesellschaftliche Probleme zu diskutieren.»
Warum sollten wir das Konsensprinzip nicht gleich im Gesetz verankern?
Als Frau trage ich die grundsätzliche, gesellschaftliche Haltung absolut mit, dass es eine ausdrückliche Zustimmung beim Sex braucht. Aber das Strafrecht ist der falsche Ort, um solche gesellschaftlichen Probleme zu diskutieren. Mit der Revision würden der Justiz grosse Beweisprobleme aufgehalst. Wir haben nun mal ein Strafrecht, in dem die Schuld und die Straftat bewiesen werden müssen. Gelingt das nicht, gilt die Unschuldsvermutung. Und faktisch ist für mich klar – auch wenn es bestritten wird – dass diese Revisionsvorschläge letztlich dazu führen würden, dass ein Täter seine Unschuld beweisen muss. Und das widerspricht unserem Denken im Strafrecht.
Inwiefern?
Der Übergriff an sich wird strafbar. Ein Täter müsste beweisen, dass eine Zustimmung stattgefunden hat. Und die Gerichte werden versuchen müssen, damit umzugehen. Das wird ihnen sicherlich die Arbeit extrem erschweren.
Im «Republik»-Talk sagten Sie, dass man Frauen in die Verantwortung nehmen müsse. Wenn eine Frau alkoholisiert und nackt irgendwo aufwacht und sich fragt, was alles passiert ist, müsse man sich fragen, ob nicht auch die Frau ein Verantwortungsbewusstsein hätte haben sollen.
Ich bin entschieden der Meinung, dass wir nicht immer das Bild des übergriffigen, bösen Mannes vor Augen haben sollten, ohne darauf zurückzufallen, den Opfern primär ein Mitverschulden an der ganze Misere zu geben. Ich habe Beispiele gesehen, bei welchen beide alkoholisiert sind, gemeinsam nach Hause gehen, weitertrinken und sich gemeinsam ins Bett legen. Wenn eine Frau dann Nein sagt, muss ein Mann das selbstverständlich respektieren und soll bestraft werden, wenn er dies nicht tut. Ich las aber häufig in Akten, wie sich Frauen in solchen Fällen verhielten. Und ich dachte mir: Das hätte ich nie so gemacht. Es darf meiner Meinung nach auch ein Verantwortungsbewusstsein der Gegenseite – des Opfers – erwartet werden.
Als junge Frau empfinde ich das als einen Affront gegenüber den Opfern, die in solchen Situationen ausgenutzt wurden.
Das kann ich verstehen. Primär darf es nicht der Ansatz sein, die Schuld bei den Opfern zu suchen. Selbst wenn ein Opfer stockbetrunken ist, ist das keine Rechtfertigung, übergriffig zu werden. Aber man könnte vieles verhindern. Selbstverständlich ist jede Frau frei, sich zu kleiden, wie sie will. Wir müssen uns wirklich sehr davon distanzieren, so weit zu gehen, zu sagen, dass ein kurzer Minirock oder ein tiefer Ausschnitt provozierend sei. Aber für mich gehört es dazu, sich als Frau auch zu überlegen, wie gewisse Verhaltensweisen oder Äusserungen vom Mann verstanden werden.
Apropos Minirock: Nachdem ein Taxifahrer 2018 in Luzern mehrere junge Frauen betatscht und eine vergewaltigt hatte, fragte eine Richterin in der Verhandlung am Kantonsgericht eines der Opfer, wie lang ihr Rock und wie tief ihr Ausschnitt war (zentralplus berichtete). Feministinnen warfen daraufhin der Luzerner Justiz Victim Blaming vor (zentralplus berichtete).
Dazu äussere ich mich sehr gerne. Ich wars ja, die diese Fragen stellte. (Sie lacht.) Für mich ist das genau ein Beispiel dafür, wie essenziell es ist, dass die Gesellschaft versteht, wie die Justiz funktioniert und warum Richterinnen auch solche Fragen stellen müssen.
Dann haben Sie ja jetzt die Chance, uns das zu erklären.
Sehr gerne. Im Sexualstrafrecht gibt es die verschiedensten Stufen von Eingriffen, verschiedene Eingriffsintensitäten. Von Betatschen – sexueller Belästigung – bis hin zur Vergewaltigung. Dazwischen gibt es die sexuelle Nötigung. Als Richterin muss ich überdies prüfen, ob die Aussagen eines Opfers glaubwürdig sind. Wenn ein Opfer beispielsweise aussagt, ein Täter habe ihr unter den Kleidern an den Busen gegriffen und der Beschuldigte aussagt, die Frau sei bis zum Hals zugekleidet gewesen, so muss ich fragen, was sie anhatte.
«Und glauben Sie mir, das ist auch mir unangenehm.»
Warum spielt das eine Rolle?
Welcher Straftatbestand erfüllt ist, richtet sich ganz konkret nach der Intensität des Übergriffs. Je nachdem handelt es sich um sexuelle Belästigung oder sexuelle Nötigung. Ob jemand über einen Pullover an den Busen oder unter die Kleidung fasst, beeinflusst auch das Strafmass. Deswegen muss ich als Richterin auch solche Fragen stellen. Und glauben Sie mir, das ist auch mir unangenehm. Es gibt nichts Schwierigeres als die Befragung der Opfer. Aber es ist nunmal relevant und gehört zur Untersuchung.
Sie haben sich immer pointiert geäussert – als eine der wenigen Richterinnen. Warum haben Sie das gemacht?
Weil ich es sehr wichtig finde, dass die Menschen die Justiz begreifen und verstehen, wie sie ihre Entscheide fällt. Für mich ist es eine elementare Aufgabe, dass sich die Justiz exponiert, nach aussen tritt, greifbar ist und ein Gesicht hat. Für mich ist es selbstverständlich, dass die Justiz sich zeigt und kommuniziert.
Werden Sie nun verstummen – oder umso mehr Ihre Freiheiten geniessen?
Nein, ich fühle mich noch nicht so als Rentnerin. (Sie lacht.) Ich habe noch gar nicht im Sinn, aufzuhören und mich zurückzulehnen. An der Universität Fribourg und Bern bleibe ich als Lehrbeauftragte aktiv, auch habe ich noch einiges im Rahmen der Weiterbildung und Beratungstätigkeit sowie ein Buchprojekt geplant. Aber die neuen Freiheiten und vor allem das Wegfallen vieler Fristen werde ich natürlich sehr geniessen und auskosten.