Marina Belobrovaja ist Mutter einer achtjährigen Tochter. Ihren Kinderwunsch hat sie sich dank privater Samenspende erfüllt. Darüber hat die Filmemacherin und Dozentin der Hochschule Luzern den Dokumentarfilm «Menschenskind!» gedreht. Im Gespräch erklärt sie, weshalb sie in ihrem Film auch kritischen Stimmen Platz gibt.
Text: Isabelle Dahinden
Bilder: Isabelle Dahinden/Golden Egg Production
publiziert am 27.11.2021 auf zentralplus
Marina Belobrovaja steht in ihrer Küche in ihrer Wohnung im Zürcher Kreis 4. Der Wasserkocher brodelt. Und wie. Marina Belobrovaja lacht, fügt den Zitronenverbene in den silbernen Teekrug, und schenkt das heisse Wasser ein.
Sie setzt sich an den Holztisch, hinter ihr in der Küche sehen wir einen grün gezeichneten Kaktus auf einem Blatt Papier und ein Herz aus Bügelperlen. Die sind von Nelly, ihrer achtjährigen Tochter.
Belobrovaja, die an der Hochschule Luzern Design und Kunst unterrichtet, hat sich ihren Kinderwunsch ohne Mann erfüllt. Wie das ging? Sie ging einen radikalen Weg. Einen Weg, über den viele nachdenken mögen, ihn aber doch nicht gehen. Im Internet suchte Belobrovaja nach einer privaten Samenspende. Nach einem Mann, mit dem sie ein Kind zeugen wird.
«Menschenskind!»: Im Film gibt’s kritische Stimmen
Darüber hat die Künstlerin und Filmemacherin den Dokumentarfilm «Menschenskind!» gedreht, der in diesem Frühling über die Leinwände der Schweizer Kinos flimmerte. Sechs Jahre lang war die 45-Jährige damit beschäftigt. Der Film ist alles andere als ein politisches Pamphlet. Alles andere als das blosse Porträt einer Frau, die ein Kind haben will, aber keinen Mann an ihrer Seite hat, mit dem sie sich den Wunsch erfüllen könnte. Denn neben Belobrovajas Geschichte kommen Menschen zu Wort, die sich auch kritisch über diese Art des Kinderkriegens äussern.
Marina Belobrovaja besuchte Menschen wie Anne und Sven. Deren Eltern haben sie mittels Samenspende bekommen, heute sind sie erwachsen. Gerade Anne stellt auf die Frage Belobrovajas, ob sie ihre eigene Existenz in Frage stelle, klar: «Nur weil ich so entstanden bin, kann mich das schlecht in die Pflicht nehmen, diese Entstehungsweise gutzuheissen.» Das tut sie nämlich auch nicht. Ein Kind zu zeugen, bei dem der genetische Vater keine soziale Verantwortung übernehme, «das könne man einfach nicht richtig machen».
Ihre Tochter soll den Samenspender kennenlernen können
Da musste auch Belobrovaja erst einmal leer schlucken. «Natürlich hat mich das total aufgewühlt und emotionalisiert», sagt sie nun an ihrem Küchentisch. Sie schenkt Tee in die beiden Gläser, die vor uns stehen. «Gleichzeitig war für mich von Anfang an klar, dass ich ganz verschiedene Seiten aufzeigen muss. Denn in dieser Realität leben wir. Für mich war es essenziell, zu Menschen zu gehen, die vergleichbare Biografien wie meine Tochter durchleben. Menschen, die quasi die Stimme meiner erwachsenen Tochter einnehmen könnten.»
«Er versicherte mir, dass mein Kind ihn kennenlernen darf und ich versprach ihm die absolute Verschwiegenheit.»
Wir spulen in der Geschichte zurück. 2012. Schauplatz ist ein Hotel im Schweizer Mittelland. Um 8 Uhr abends klopft es an der Zimmertür. Ein Mann steht vor der Tür. Es ist der Mann, mit dem Belobrovaja Sex haben wird. Der Mann, der später der genetische Vater ihrer Tochter Nelly wird. Einen Vertrag haben die beiden nicht abgeschlossen. Wozu auch? «Alles, was wir taten, war illegal. Er versicherte mir, dass mein Kind ihn kennenlernen darf und ich versprach ihm die absolute Verschwiegenheit.»
Die gebürtige Ukrainerin wollte schon immer ein Kind – doch die Umstände in ihrem Leben liessen es nicht zu. Ihre Beziehungen: flüchtig. Die Arbeit: ihren Alltag einnehmend. Keine idealen Voraussetzungen also, um ein Kind zu kriegen. Und dann begann auch noch die biologische Uhr zu ticken. Jemanden auf einer Party abzuschleppen oder eine Beziehung einzugehen, nur des Kindeswunsches wegen, war für Belobrovaja keine Option. Sie wollte, dass sie ihrem Kind später den leiblichen Vater nennen und dieses ihn auch kennenlernen kann. Und da die Samenspende Alleinerziehenden verwehrt ist, entschied sie sich mit 36 Jahren, ihren Weg alleine zu gehen.
Dürfen nur heterosexuelle Paare Kinder haben?
Belobrovaja geht es nicht darum, sich ins Zentrum zu rücken. «Ich versuche über meine eigene Geschichte etwas zu erzählen, was für möglichst viele Menschen anschlussfähig ist.» Für Belobrovaja muss der Kinderwunsch nicht zwingend mit einer romantischen Beziehung einhergehen. «Wenn man in einer anderen Geschlechtsidentität lebt als die biologisch mitgegebene oder in einer homosexuellen Beziehung lebt, so muss man dies ja eh voneinander trennen», sagt Belobrovaja.
«Ist Kinderhaben nicht grundsätzlich egoistisch?»
Für sie sind Familien kein heteronormatives Konstrukt. Auch mit ihrer Tochter spricht sie über verschiedene Konzepte von Familien. Über die Facetten von Sexualität und Geschlechtsidentität. Sodass Nelly im Bewusstsein einer grossen Diversität aufwächst. Belobrovaja erzählt, mit Blick aus dem Fenster, wie sie das Quartier hier schätzt. Weil hier Menschen verschiedenster Herkünfte leben und neben traditionellen Familien auch Eineltern-, Trans-, Homo- und Co-Elternschaften.
Feste Rollenbilder verunsichern
Belobrovaja ist immer wieder mit kritischen Voten konfrontiert. Ob das nicht egoistisch sei, den Kinderwunsch höher zu stellen. Ob sie sich denn überhaupt überlegt habe, was sie da ihrem Kind «antue». Diese Aussagen verletzen. Und Belobrovaja fragt: «Ist Kinderhaben nicht grundsätzlich egoistisch? Schliesslich kann niemand sein Kind vor der Geburt fragen, ob es in diese Welt gesetzt werden will.»
Mit ihrem Film will sie keine Antworten liefern. Sondern viele Fragen. «Es geht mir darum, Zweifel zu sähen.» Wir fragen nach, wie sie das meint. «Am liebsten wäre mir, dass feste Rollenbilder und familiäre Vorstellungen verunsichert werden. Nur so kann ein politischer Prozess einsetzen. Denn ist es nicht vor allem Liebe und eine konstante Beziehung, die ein Kind in seinem Leben braucht?», so Belobrovaja.
Die Frage nach dem genetischen Vater
Es klingelt. «Das ist Nelly», sagt Marina Belobrovaja und öffnet die Tür. Sekunden später steht Nelly an der Tür mit ihrer Freundin – beide strahlen und grüssen uns freundlich. Belobrovaja tischt ihnen Nachtisch auf. Nelly fragt ihre Mutter, ob auch eine weitere Schulfreundin noch zum Spielen kommen darf. Klar, erwidert diese. Dann müsse sie aber auch für sie noch das Zvieri zubereiten. «Sie darf aber kein Schwein essen», sagt Nelly. Belobrovaja lacht. «Für das Dessert muss ich Butterkekse zerbröckeln. Das gibt eine Schweinerei – ist aber kein Schwein.»
«Alle Beziehungen zu anderen Menschen, die wir eingehen, sind ja an Bedingungen geknüpft. Nur die Beziehung zum Kind ist und bleibt bedingungslos.»
Nelly feiert bald ihren 9. Geburtstag. «Als wir kurz nach der Filmpremiere darüber gesprochen haben, meinte Nelly, dass sie ihn treffen will, wenn sie mal in der 3. Klasse ist.» Mit «ihn» meint Belobrovaja den privaten Samenspender. Wie sie ihn nennt, wollen wir wissen. «Es fällt mir schwer, den Begriff ‹Vater› zu verwenden. Nelly bezeichnet ihn zwar ab und zu als ihren biologischen Vater. Für mich steht der Begriff aber in erster Linie für eine soziale Rolle und weniger für eine biologische Funktion.»
Nelly soll übrigens 59 Halbgeschwister haben. So viele Kinder hat ihr genetischer Vater mittlerweile gezeugt. Als Nelly dreijährig war, klärte Belobrovaja sie auf, dass es da einen Mann gab, der ihr geholfen habe, weil sie Nelly unbedingt kriegen wollte. Und nun: Samenspender? Klingt zu ökonomisch. Erzeuger? Klingt initiierend, dabei war es ja Belobrovaja, die das Kind wollte. Miterzeuger? «Das klingt toll!», sagt sie und lacht. «Miterzeuger gefällt mir. Das nehmen wir jetzt in unseren Wortschatz auf.»
Liebe zum Kind als Konstante
Einen «Ersatzvater» wollte Belobrovaja für ihre Tochter gar nie suchen. Das ging auch nicht, wie ihr nach einer früheren Beziehung bewusst wurde. «Nelly und ich, wir sind eine Einheit.» Wenn Belobrovaja eine Beziehung mit einem Mann eingeht, dann geht es ihr ums Begehren, Freundschaft und Liebe. Und nicht darum, im Alltag zu dritt zu funktionieren.
Seit drei Jahren hat Belobrovaja wieder einen Partner. Er sei eine Bezugsperson für Nelly. Sie leben jedoch in getrennten Wohnungen und anderen Städten – würden aber einen grossen Anteil am Leben des anderen nehmen. «Zugleich sind wir aufeinander nicht angewiesen, was der Beziehung wahnsinnig gut tut.»
Sie ergänzt: «Alle Beziehungen zu anderen Menschen, die wir eingehen, sind ja an Bedingungen geknüpft. Nur die Beziehung zum Kind ist und bleibt bedingungslos.»
Alleinerziehend sein
Belobrovaja reicht uns eine Schüssel mit Datteln. «Die sind fast so gut wie in Israel», schwärmt sie. Bald fahre sie wieder hin.
Ihre Familie lebt nämlich da. Sie ist auch heute noch eine grosse Stütze für sie. Belobrovaja wurde in der Sowjetunion geboren. Als 13-jähriges Mädchen übersiedelte sie mit ihren Eltern nach Israel, später zog sie nach Berlin, dann nach Zürich. Die enge Bindung zu ihrer Familie ist auch im Film spürbar. So erkundigt sich die Grossmutter vor dem Treffen mit dem Samenspender per Skype, wie es Marina geht, und ob er schon im Hotelzimmer angekommen sei.
Ihre Familie nimmt in den Ferien auch mal Nelly zu sich oder unternimmt mit ihr etwas in Europa. Denn für Belobrovaja – alleinerziehende Mutter, die Kind, Haushalt, Beruf, Karriere und Projekte vereinbaren will – ist es nicht immer einfach. «Es ist tatsächlich angenehmer, dies alles nicht alleine zu tun. Ich komme immer wieder an meine Grenzen. Jetzt gerade wieder.»
Zweifeln und hoffen
Auf einen Teil ihres Engagements verzichten könne sie aber nicht. Dafür liebe sie alles viel zu sehr. Gerade hat sie sich ein paar Tage freigenommen. Um ein wenig herunterzukommen. Belobrovaja greift zu einem Buch in einem hellblauen Band, das vor ihr auf dem Tisch liegt. «Wo der Wolf lauert», es ist das Buch von Ayelet Gundar-Goshen, einer israelischen Schriftstellerin. «Diese Art von Lesestoff erlaube ich mir selten. Meistens muss es für die Arbeit brauchbar sein.»
Bleibt die Frage zum Schluss: Hat Belobrovaja Angst, dass Nelly ihr später einmal sagen wird, sie wollte das nicht? Per Samenspende gezeugt zu werden? «Die Tatsache, dass ich mich für diesen Weg entschieden habe, heisst nicht, dass ich frei von jeglichen Zweifeln bin. Natürlich habe ich diese. Ich setze mich aber mit dieser Angst auseinander. Es ist mir bewusst, dass Nelly später nicht ihre Herkunft gutheissen muss, nur weil sie so auf die Welt gekommen ist. Ich hoffe aber sehr, dass unsere innige Beziehung weiterhin Bestand hat, wir im stetigen Dialog bleiben und ich ihr auch künftig ein emotionales Zuhause biete.»
Online kannst du den Film hier sehen.