Jeder zweite Schweizer Mann leidet an Übergewicht. Doch wie wohl fühlen sich Männer in ihren Körpern – und in welchen Situationen werden sie diskriminiert? Ich habe bei dicken Männern in Luzern nachgefragt.
Text: Isabelle Dahinden
Bild: Adobe Stock
publiziert am 25.02.2023 auf zentralplus
Nur athletisch gebaute Männer fahren schicke Autos, nur dünne Männer schenken ihrer Frau Pralinen. Und nur, wer Muskeln aus Stahl hat und aussieht wie Adonis, präsentiert in knappen Höschen das neueste Parfümflakon. Eine solche Welt offenbart sich uns zumindest in den Werbespots.
Der dicke Mann existiert – doch er bleibt unsichtbar. Denn die Realität sieht anders aus, als sie uns auf den Bildschirmen gezeigt wird. In der Schweiz bringt jeder zweite Mann zu viele Kilogramm auf die Waage. Bei den Frauen ist es «nur» jede dritte, die übergewichtig oder adipös ist.
Während dicke Männer der Leinwand und den Catwalks fernbleiben, sind weibliche Plus-Size-Models omnipräsent. Sie tragen Designerkleider, stolzieren über die Catwalks dieser Welt, werden beklatscht. Frauenkurven, die sind schön. Die unterschiedlichsten Frauenkörper werden zelebriert – ob dünn, kurvig, dick. So preisen Frauen in allen möglichen Silhouetten für die amerikanische Kosmetikfirma «Dove» Duschgel an, kurvige Frauen strecken für «Gillette Venus» ihre dicken, aber glatt rasierten Waden in die Kamera. Dahinter steht die Body-Positivity-Bewegung, die 2012 durch einen Hashtag massiven Aufschwung bekommen hat, der bis heute nachhallt. Ziel: Akzeptiere deinen Körper und liebe ihn, so wie er nun mal ist. BMI hin oder her.
Doch was ist mit den Kurven des Mannes? Wo bleiben die dicken Männer? Und wie wohl fühlen sie sich in ihren Körpern?
Körper: Nicht nur Hülle
Mike aus Luzern würde gerne 30 Kilogramm weniger wiegen. Er selbst sagt: «Ich mag meinen Körper nicht, wie er gerade ist.» Auch an anderen Männern findet er überschüssige Pfunde unattraktiv. Die Body-Positivity-Bewegung findet er nicht nur gut. Für ihn sei diese ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Teilweise würde die Bewegung quasi als Freifahrschein fungieren. «Ich finde es komisch, wenn alle sagen: Egal, wie du aussiehst, dein Körper ist perfekt, so wie er ist. Denn es ist hoffentlich allen klar, dass Übergewicht nicht gesund ist», sagt Mike. Nichts zu verändern sei sicherlich bequemer. Aber eben nicht gesünder. Mike will aber nicht nur abnehmen, weil es gesünder ist. «Sondern auch, um dem gesellschaftlichen Ideal ein wenig besser zu entsprechen.»
«Ich mag meinen Körper nicht, wie er gerade ist.»
Mike
Mit seinen Freunden spricht er immer wieder über das Gewicht. Er kennt auch die Blicke anderer, wenn er beispielsweise einen Cheeseburger isst, während sich andere mit einem Joghurt zufriedengeben. «Kommt dann ein abfälliger Blick oder ein blöder Kommentar, finde ich das gut», sagt Mike. Warum? «Das ist jeweils ein Reminder: ‹Pass auf, achte auf dein Gewicht, das ist nicht gesund.›» Auch wenn er kein Verfechter des BMI sei: Hinter vielen gesundheitlichen Problemen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder teilweise sogar Depressionen steht Übergewicht, betont Mike.
«Fatshaming»: Warum Mike auch etwas Gutes darin sieht
Solche Kommentare fallen unter den Begriff «Fatshaming». Darunter versteht man «das öffentliche oder private Kritisieren und Beleidigen von Übergewichtigen mit dem Ziel, dass diese sich für ihr Gewicht und Essverhalten schämen». Mike findet Fatshaming per se nichts Schlechtes. «Ich finde: Gerade gute Freunde oder die Partnerin müssen einem sagen, wenn man zu dick ist. Klar, muss das nicht jeder Tag sein – aber ab und zu braucht es einen Push.» Viel zu selten stünde man auf die Waage, viel zu oft belüge man sich selbst, wenn man sich vor dem Spiegel begutachte. Mike ist der Ansicht, dass die meisten übergewichtigen Menschen selbst schuld daran sind und dass es in ihrer Hand liege, abzunehmen.
«Das war so peinlich. Danach habe ich innerhalb von vier Monaten 15 Kilo abgenommen.»
Mike
Doch verletzen solche Kommentare nicht? Und ist das Gewicht nicht Privatsache? Klar, komme es darauf an, wie und was genau jemand sagt, räumt Mike ein. Auch ihn haben solche Aussagen schon getroffen. Er hat schon mal das Fitnesscenter gewechselt, weil einer der Mitarbeitenden meinte, es «sei ja an der Zeit gewesen». Nach einem Erlebnis hat er gar rasant abgenommen: Im Europapark kontrollierte jemand bei der Achterbahn Silver Star, ob bei jedem Gast die Gurte gut anliegen. Schliesslich meinte einer, dass man «bei den Dicken besonders gut» darauf achten müsse. Mike sagt rückblickend: «Das war so peinlich. Danach habe ich innerhalb von vier Monaten 15 Kilo abgenommen.»
So etwas von Fremden zu hören, sei schon unangenehm. «Doch für mich geht es im Kern nicht darum, sich gegenseitig fertigzumachen – sondern darum, sich umeinander zu kümmern.» Mike findet den Begriff «Nudging» – ein Begriff aus der Verhaltensforschung – treffender. Das bedeutet wörtlich so viel wie «anstossen» oder «anschubsen». Wenn also beispielsweise ein Freund statt einem Filmabend auf der Couch einen Spaziergang vorschlägt und den Burger mit einem Salat austauscht, so ist das für Mike einer dieser «gut gemeinten Anschubser». Solange man das Thema eben sanft anbahne und zu niemandem gemein sei.
Wann ein Körper «dünn» oder «dick» ist
Ob dein Körper als «dünn», «dick» oder als «normal» gilt, wird meistens mit dem Body-Mass-Index (BMI) festgelegt. Dieser berechnet sich durch Körpergewicht durch Körpergrösse zum Quadrat.
Doch wann ist ein Körper «schön»? Von Size Zero bis Curvy – fast jede Körperform schien einst das Ideal zu sein. Bei den Frauen waren mit Marilyn Monroe in den 1950er-Jahren Sanduhrfiguren – grosser Busen, schlanke Taille, breite Hüften – das Nonplusultra. Tabletten, mit den Appetit ankurbelten, boomten. In den 1960er-Jahren wurden die Dickmacherpillen mit den Dünnmachern ausgetauscht, die Weight Watchers kamen. Alle wollten so mager sein wie Model und It-Girl Lesley «Twiggy» Lawson. Schliesslich sollten Frauenkörper athletischer werden. Dann wieder extrem mager. «Heroin chic» war gefragt, das hiess: dürr, knochig, eingefallenes Gesicht. Schliesslich durften Frauenkörper wieder curvy sein – spätestens mit Kim Kardashian kam der dicke Hintern, der jetzt scheinbar wieder flachgedrückt werden soll.
«Ich habe schnell realisiert, dass ich als Dicker für andere auf dem Singlemarkt nicht attraktiv bin.»
Marlon
Doch auch der ideale Männerkörper ändert sich stetig. Während in den 1960er-Jahren viele Männerkörper untrainiert gelassen wurden, eiferten Männer spätestens seit den 1980er-Jahren und Arnold Schwarzenegger einem Adonis-Körper nach. Nach den 80er Jahren musste es zwar nicht mehr Bodybuilder-Masse sein – doch schlank und muskulös ist nach wie vor gängiges Ideal.
Lachen, wenn’s schmerzt
Auch Marlon, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, fühlt sich zu dick. Immer wieder rafft er sich in gewissen Phasen auf, stellt seine Ernährung auf den Kopf, pumpt abends im Gym – und lässt’s dann wieder sein. Auch, weil er sich schlicht unwohl fühlt, ständig von anderen zu begafft werden.
Sein Gewicht macht ihm zu schaffen. «Insbesondere als übergewichtiger Single ist es nicht leicht.» Er ist zwar noch auf Datingplattformen wie Tinder aktiv – wirklich ergiebig sei das für ihn aber nicht. «Ich habe schnell realisiert, dass ich als Dicker für andere auf dem Singlemarkt nicht attraktiv bin. Niemand wünscht sich so was.»”
«Eigentlich ist es jedes Mal ein Dolch ins Herz, weil mir wieder bewusst wird: Ich bin zu fett, das passt anderen nicht.»
Marlon
Auf Tinder hat er Bilder hochgeladen, auf denen sein Körperbau zu sehen ist. Er wolle keine falschen Erwartungen beim Gegenüber schüren, sagt Marlon. «Früher habe ich eher vertuschen wollen, dass ich dick bin. Aber wenn man sich dann mit einer Frau getroffen hat, haben die jeweils schnell zu erkennen gegeben, dass ich nicht ‹ihr Typ› sei.» Auch im Ausgang merkt er, wie Frauen mit seinen Kollegen ins Gespräch kommen – ihn beiseite lassen oder höchstens als «Wingman», als Verkuppler, benutzen.
Auch er hat Erfahrungen mit Fatshaming gemacht. Für ihn hat das nichts mit «Kümmern» zu tun. Wirklich dagegen auflehnen tut er sich aber nicht, wenn es dazu kommt. «Ich kontere jeweils oder reisse selbst Sprüche über mein Gewicht», sagt Marlon. Er lässt aber auch in sein Inneres blicken: «Eigentlich ist es jedes Mal ein Dolch ins Herz, weil mir wieder bewusst wird: Ich bin zu fett, das passt anderen nicht.»
Das Gewicht bei der Partnerwahl
Männerberater Stefan Kuster kennt die Sorgen der Männer. Er hat in Luzern eine eigene Praxis, wo er Männer zu Themen wie Beziehungen, Sex, Leistungsdruck und Trauer berät. Er sagt: «Leidet die Gesundheit oder die Psyche, kann das Gewicht zu einem Problem werden.»
Schönheitsideale werden heute vor allem durch soziale Medien in unsere Köpfe eingetrichtert. «Ich habe den Eindruck, dass sich insbesondere junge Männer von den männlichen Schönheitsidealen angesprochen fühlen – also möglichst durchtrainiert und muskulös sein wollen. Mit zunehmendem Alter kommt man davon eher wieder etwas weg, ganz einfach weil da auch andere Qualitäten in den Fokus kommen.»
In seiner Praxis ist das Gewicht nicht oft Thema. Dennoch kann er sich gut vorstellen, dass manche damit zu kämpfen haben – insbesondere beim Kennenlernen potentieller Partnerinnen. «Das Aussehen ist ja insbesondere bei der Partnerwahl wichtig – deswegen kann ich mir vorstellen, das starkes Unter- oder Übergewicht insbesondere da zu einem Thema werden kann.»
Für den Männerberater ist klar: «Wichtig ist, dass man sich in seinem Körper wohl fühlt und dies auch nach aussen zeigen kann. Das wirkt attraktiv. Da spielt es auch keine Rolle, wenn hier oder dort ein Kilo zu viel ist.» Kuster ist überzeugt: «Ausstrahlung, Selbstbewusstsein oder auch generelle Lebensfreude haben in der Partnerwahl immer einen hohen, wenn nicht gar höheren Stellenwert, als der perfekte Bodymass-Index.»